Shell-Berufungsurteil: Was es für Klimaklagen bedeutet
Mit Berufungsurteil vom 12.11.2024 (Az. 200.302.332/01) hat der Den Haager Gerichtshof (Gerechtshof Den Haag) die vielbeachtete Entscheidung des Bezirksgerichts Den Haag im Verfahren der NGO Milieudefensie und weiterer Kläger gegen Shell vom 26.05.2021 aufgehoben. Die erstinstanzliche Entscheidung hatte Shell verpflichtet, seine konzernweiten CO₂-Emissionen um 45 % bis 2030 im Vergleich zu 2019 zu senken. Der Gerichtshof bestätigt nunmehr in der Berufungsinstanz zwar grundsätzlich, dass der Schutz vor gefährlichem Klimawandel ein Menschenrecht darstellt und Unternehmen wie Shell eine eigene Verantwortung zur Emissionsreduktion haben. Er hat jedoch, anders als das erstinstanzliche Gericht, die Möglichkeit, Shell auf einen konkreten, absoluten Reduktionspfad zu verpflichten, abgelehnt und betont die unternehmerische Freiheit, im Rahmen der EU-rechtlichen Anforderungen einen eigenen Ansatz zur Reduzierung von CO₂-Emissionen zu verfolgen.
Da die Entscheidung eine wichtige Leitentscheidung für Klimaklagen und die Verantwortung von Unternehmen ist, bedarf das Urteil einer sorgfältigen Analyse und Einordnung:
Der geltend gemachte Anspruch
Die Kläger verlangen von Shell, die konzernweiten CO₂-Emissionen bis 2030 um 45 % gegenüber dem Stand von 2019 zu reduzieren. Hilfsweise fordern sie eine Reduktion um mindestens 35 % oder mindestens 25 %. Der Anspruch umfasst dabei:
- die direkten Emissionen von Shell (Scope 1),
- die indirekten Emissionen aus zugekaufter Energie (Scope 2),
- die Emissionen aus der Nutzung der Shell-Produkte durch Endverbraucher (Scope 3) [Ziffer 4.1 des Urteils].
Die Kläger stützen ihren Anspruch auf die deliktsrechtliche Generalklausel des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs (Art. 6:162 des Burgerlijk Wetboek („BW“)). Diese Vorschrift enthält in Absatz 2 einen Zusatz, den das deutsche Recht so nicht kennt. Als unerlaubte Handlung gilt die Verletzung eines Rechts sowie eine Handlung oder Unterlassung, die gegen eine gesetzliche Pflicht oder gegen das, was nach ungeschriebenem Recht als „ordnungsgemäßes soziales Verhalten“ anzusehen ist, verstößt, wenn es für dieses Verhalten keine Rechtfertigung gibt. Die Kläger argumentieren, dass die unterlassene CO₂-Reduktion gegen ungeschriebene Verhaltenspflichten verstößt und damit rechtswidrig ist.
Kernpunkte der gerichtlichen Berufungsentscheidung
- Der soziale Sorgfaltsmaßstab, der bestimmt, ob Shell gegen „ordnungsgemäßes soziales Verhalten“ verstößt, wird anhand objektiver Kriterien ermittelt – dazu gehören Rechtsvorschriften, allgemeine Rechtsgrundsätze, Grundrechte, Rechtsprechung und Sachverständigengutachten [Ziffer 7.2 des Urteils].
- Der Schutz vor gefährlichem Klimawandel ist ein Menschenrecht. Die Hauptverantwortung für die Bekämpfung des Klimawandels liegt zwar bei den Staaten, dies bedeutet aber nicht, dass private Unternehmen wie Shell keine rechtliche Verantwortung tragen [Ziffer 7.17 des Urteils].
- Unternehmen, die ihre CO₂-Emissionen nicht reduzieren und weiterhin zum Klimawandel beitragen, verstoßen gegen Menschenrechte und damit auch gegen den sozialen Sorgfaltsmaßstab.
- Der soziale Sorgfaltsmaßstab dürfte von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sein, abhängig vom Beitrag des Unternehmens zum Klimawandel und seiner Fähigkeit, dem Klimawandel entgegenzuwirken. „Von Shell kann mehr erwartet werden als von den meisten anderen Unternehmen, da Shell seit über 100 Jahren ein wichtiger Akteur auf dem fossilen Brennstoffmarkt ist und auch heute noch eine herausragende Position auf diesem Markt einnimmt“ [Ziffer 7.55 des Urteils].
- Die Befolgung öffentlich-rechtlicher Vorschriften, insbesondere der EU-Klimagesetzgebung (EU-Emissionshandel, Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD)), schließt privatrechtliche Pflichten nicht aus [Ziffer 7.53 des Urteils].
- Für die Scope-1- und Scope-2-Emissionen, die nur 5 % der Emissionen von Shell ausmachen [Ziffer 3.24 des Urteils], fehlt es an einer drohenden Rechtsverletzung, da Shell bereits selbst eine 50-prozentige Reduktion bis 2030 anstrebt [Ziffer 7.65 des Urteils].
- Für Scope-3-Emissionen schreibe das bestehende Klimarecht zwar keine spezifischen CO₂-Reduktionsziele für einzelne Unternehmen oder Sektoren vor, es sei aber denkbar, dass in der Klimawissenschaft Konsens über spezifische Reduktionsstandards besteht, die für ein Unternehmen wie Shell gelten sollten, damit es einen angemessenen Beitrag zu den Klimazielen des Pariser Abkommens leistet [Ziffer 7.67 des Urteils]. Untersucht werden dabei zwei Argumentationsansätze:
- Die Forderung der Kläger nach einer 45-prozentigen Reduktion bis 2030 stützt sich hauptsächlich auf die Berichte des Weltklimarats (IPCC), der Internationalen Energieagentur (IEA), der Science Based Targets Initiative und der Race to Zero Initiative [Ziffer 7.69 des Urteils]. Sie leiteten aus den Berichten ab, dass der Prozentsatz von 45% bis 2030 auch für den Energiesektor und in der Folge auch für einzelne Unternehmen wie Shell gelten sollte [Ziffer 7.72 des Urteils]. Dem ist das Gericht dezidiert nicht gefolgt. Es stellte vielmehr fest, dass es problematisch sei, aus globalen Durchschnittswerten ein spezifisches Reduktionsziel für Shell abzuleiten [Ziffer 7.73 des Urteils].
- Zu der Frage, ob sich ein präziseres Ziel für den Öl- und Gassektor, zu dem Shell gehört, ableiten ließe, wurden verschiedene Sachverständigengutachten vorgelegt. In seiner Bewertung der Beweise kam das Gericht zum Schluss, dass der wissenschaftliche Konsens über das angemessene CO₂-Reduktionsziel nicht ausreichend war, um eine rechtliche Anordnung gegen ein einzelnes Unternehmen zu erlassen [Ziffer 7.91 des Urteils]. Aus diesem Grund hob das Gericht den vielbeachteten Ausspruch der erstinstanzlichen Entscheidung zu einer 45-prozentigen CO2-Reduktion auf.
Bedeutung und Ausblick
Die Tagespresse deutete das Berufungsurteil häufig vorschnell als einen Wendepunkt bei Klimaklagen. Dies verkennt jedoch die tatsächliche Tragweite dieser wichtigen Leitentscheidung:
Das Berufungsgericht hat den Grundsatz bekräftigt, dass Unternehmen verpflichtet sind, zur Eindämmung des Klimawandels im Einklang mit den Emissionsreduktionszielen des Pariser Abkommens beizutragen. Es war aufgrund der vorgelegten divergierenden Sachverständigengutachten (noch) nicht in der Lage, Shell ein konkretes CO₂-Emissionsminderungsziel aufzuerlegen. Ausdrücklich festgestellt wird hierbei, dass die Maßnahmen der EU zur Reduzierung von CO₂-Emissionen nach EU ETS, CSRD und CSDDD auch Unternehmen verpflichten. Es ergeben sich hieraus jedoch keine absoluten Reduktionspflichten für bestimmte Unternehmen oder Industriesektoren, und Unternehmen sind in dem hierdurch vorgegebenen Rahmen frei, ihre eigene Strategie zur Reduktion von Emissionen zu verfolgen. Es dürfte allerdings nur eine Frage der Zeit sein, bis genauere Daten über die sektoralen CO₂-Reduktionspfade verfügbar sind. Zukünftig könnte es daher durchaus denkbar sein, dass große CO₂-emittierende Unternehmen in den Niederlanden zu spezifischen CO₂-Reduktionszielen verpflichtet werden.
Es ist auch nicht Shells Argumentation gefolgt worden, wonach ausschließlich das öffentliche Recht, insbesondere das EU-Klimaschutzrecht, den maßgeblichen verpflichtenden Rechtsrahmen für Unternehmen bilde [Ziffer 7.53 des Urteils]. Dies ist eine wichtige Feststellung, die den Weg für klimabezogene Unternehmensklagen auf privatrechtlicher Grundlage – zumindest in den Niederlanden – weiter offenhält.
Das Berufungsurteil, wie auch schon das erstinstanzliche Urteil, ist nur bedingt übertragbar auf die Rechtslage in Deutschland. Denn die als Anspruchsgrundlage herangezogene niederländische deliktsrechtliche Generalklausel (Art. 6:162 des Burgerlijk Wetboek) eröffnet einen weitaus größeren tatbestandlichen Einfluss für ungeschriebene Rechtssätze als die entsprechenden Generalklauseln im deutschen Recht (§ 823 BGB oder § 1004 BGB). Aus diesem Grund hat der Impuls, der vom Shell-Urteil des Bezirksgerichts Den Haag vom 26.05.2021 ausging, bislang noch in keinem der in Deutschland anhängigen Klimaklagen gegen einzelne Unternehmen verfangen.
Aus Umwelt-Compliance Sicht müssen Klimaklagen gegen Unternehmen gleichwohl ernst genommen werden. Seit 2021 hat die Anzahl der Klimaklagen gegen Unternehmen erheblich zugenommen. Zur Reduzierung des Klagerisikos empfiehlt es sich aus Unternehmenssicht, einen Klimaschutzplan aufzustellen, der Reduktionsziele für 2030 und 2050 vorsieht. Unternehmen, die nach der CSRD berichtspflichtig sind, müssen ohnehin einen mit dem Pariser Abkommen in Einklang stehenden Übergangsplan für den Klimaschutz erstellen und umsetzen (ESRS E.1-1). Das gleiche gilt für die Unternehmen, die der EU-Lieferkettenrichtlinie CSDDD unterfallen, müssen ohnehin einen mit dem Pariser Abkommen in Einklang stehenden Übergangsplan für den Klimaschutz erstellen und umsetzen (Art. 22 CSDDD).